Pressemitteilung – 27. Juni 2023
In Graz ereigneten sich in den letzten Tagen mehrere tragische Unfälle zwischen Radfahrer:innen und Lastkraftwägen bzw. Straßenbahnen. Laut Medienberichten fuhr eine Radfahrerin rechts an einem Betonmischer vorbei, der gerade rechts abbog. Für sie kam jede Hilfe zu spät.
Der Verein Große schützen Kleine warnt eindringlich vor der, oftmals unterschätzten, Gefahr des toten Winkels und Sichteinschränkungen der verschiedenen Verkehrsteilnehmer:innen.
Unfallursachen rund um „Sehen und gesehen werden“
Für den Fokusreport „Sehen und gesehen werden – Unfalle im toten Winkel und aufgrund von Sichtbehinderungen“ hat das Forschungszentrum für Kinderunfälle des Vereins GROSSE SCHÜTZEN KLEINE die Verkehrsunfallstatistik Österreich der letzten Jahre analysiert. Über alle Altersgruppen hinweg spielte bei 39.986 (= 21,5 % von 186.410) Verkehrsunfällen, bei denen sog. ungeschützte Verkehrsteilnehmer:innen betroffen waren, der Faktor „Sehen und gesehen werden“ eine entscheidende Rolle. Davon passierten wiederum ganze 96 % aufgrund des toten Winkels, „nur“ 4 % aufgrund der schlechten Lichtsituation. „Beim toten Winkel denken viele vermutlich sofort an einen Lkw, einen Bus oder einen Traktor. Der ‚verletzende Unfallgegner‘ war allerdings in 91 % der Fälle ein Pkw. In ‚nur‘ 7 % der Fälle handelte es sich um einen Lkw, und in je 1 % der Fälle um einen Bus oder einen Traktor“, betont Univ.-Prof. Dr. Holger Till, Präsident des Vereins GROSSE SCHÜTZEN KLEINE. Betrachtet man den genauen Unfallhergang in Zusammenhang mit „Sehen und gesehen werden“, so lässt sich feststellen, dass 57 % der Unfälle aufgrund von Sichteinschränkungen durch zu knappes Queren der Straße vor, durch zu knappes Bewegen neben dem Fahrzeug oder durch unbemerktes Vorbeigehen hinter dem reversierenden Fahrzeug passierten, 28 % aufgrund des toten Winkels beim Linksabbiegen, 11 % aufgrund des toten Winkels beim Rechtsabbiegen und „nur“ 4 % aufgrund des Nicht-gesehen-Werdens wegen schlechter Lichtsituation.
Jugendliche Verkehrsteilnehmer:innen besonders stark gefährdet
Till: „Blicken wir nun auf die Altersgruppe der Verunfallten in Zusammenhang mit ‚Sehen und gesehen werden‘, so zeigt sich, dass Jugendliche zwischen 15 und 19 Jahren besonders gefährdet sind.“ In Bezug auf die Art der Verkehrsteilnahme sind Fußgänger:innen mit 36 % an erster Stelle zu finden, gefolgt von Radfahrer:innen (33 %), Mopedfahrer:innen (31 %) und Personen, die mit einem Spiel- und Sportgerät, wie z.B. einem Scooter, (1%) unterwegs waren. Dr. Peter Spitzer vom Forschungszentrum für Kinderunfälle des Vereins GROSSE SCHÜTZEN KLEINE: „Insgesamt besonders riskante Situationen sind das knappe Vorbeigehen von Fußgänger:innen vor/hinter/neben Pkw, Lkw und Bus, das Linksabbiegen von Pkw oder Lkw für entgegenkommende Mopedfahrer:innen sowie das Rechtsabbiegen von Lkw für Fußgänger:innen, Radfahrer:innen und Nutzer:innen von Spiel- und Sportgeräten. Hier gibt es auffällig viele schwer bis tödlich verletzte Unfallopfer.“ Die meisten Unfälle im toten Winkel und aufgrund von Sichtbehinderungen passieren innerorts, bei Tageslicht und im ungeregelten Kreuzungsbereich (keine Ampel).
Unfallprävention in Schule und Führerschein-Ausbildung
„Um Unfällen im toten Winkel und aufgrund von Sichtbehinderungen entgegenzuwirken, empfehlen wir die Erweiterung entsprechender Ausbildungsinhalten in der schulischen Verkehrs- und Mobilitätserziehung, in der Ausbildung zur „Freiwilligen Radfahrprüfung“ sowie in der Führerscheinausbildung (AM, A, B, C). Schwerpunkte sollten sich auf Rollentausch und Reflexion beziehen (Vor-/Nachteile der verschiedenen Arten der Verkehrsteilnahme in puncto „Sehen, gesehen werden, Umsicht“, im Zweifel passives Verhalten im Verkehr vorziehen)“, so Spitzer.
Projekt „Augen auf die Straße – Ich seh‘, was du nicht siehst!“
Um bereits die Kinder im Volksschulalter mit dieser Problematik vertraut zu machen, wurde mit Unterstützung des Landes Steiermark das Projekt „Augen auf die Straße – Ich seh‘, was du nicht siehst!“ für alle Schulen der 1. bis 6. Schulstufe entwickelt. Sport- und Bewegungsübungen, Videos, Simulationen und Arbeitsblätter ermöglichen es den Pädagog:innen, den Themenbereich „Sichteinschränkung“ mit Übungen zum Perspektivenwechsel eindrücklich zu veranschaulichen und vielfältig in den Unterricht einfließen zu lassen. „Kinder haben in diesem Alter noch Schwierigkeiten, den Blickwinkel eines anderen einzunehmen, sich in dessen Rolle hineinzuversetzen und die eigene Wahrnehmung als nur eine von mehreren Möglichkeiten zu begreifen. Anfang Volksschulalter haben Kinder noch eine ‚Was ich sehe, ist da, was ich nicht sehe, ist nicht da‘-Wahrnehmung. Sie gehen entsprechend auch z.B. oftmals davon aus, dass ein/e Autolenker:in sie sieht, sobald sie selbst das Auto sehen“, betont Spitzer. Erst mit 10 bis 12 Jahren hat das Kind das gleiche Gesichtsfeld wie ein Erwachsener. Bei den Jugendlichen spielt die Ablenkung durch das Handy eine zunehmende Rolle. In Stresssituationen kann es zu einer Fokussierung der Aufmerksamkeit kommen, wie z.B. „Ich muss den Bus noch schnell erreichen“, und das Verkehrsgeschehen rundherum wird „vergessen“. Darüber hinaus wird die Wichtigkeit des Blickkontakts zu anderen Verkehrsteilnehmer:innen von Personen jeden Alters und bei jeder Art der Verkehrsteilnahme oftmals unterschätzt (z.B. beim Überqueren eines Zebrastreifens).
Die Toolbox zum Projekt „Augen auf die Straße – Ich seh‘, was du nicht siehst!“ steht Pädagog:innen und allen weiteren Interessierten zur Verfügung. Sie beinhaltet ein Projekthandbuch mit Arbeitsblättern und Übungen zum Perspektivenwechsel, Kurzvideos mit Sport- und Bewegungsübungen, ein Übungsposter fürs Klassenzimmer.
Eindrucksvolle Aufgaben zum Fokus „Toter Winkel und Sichtbehinderungen“ stehen auf der Homepage: www.grosse-schuetzen-kleine.at/e-learning zum gemeinsamen Üben für Groß und Klein zur Verfügung.
Den gesamten Fokusreport „Sehen und gesehen werden – Unfälle im toten Winkel und aufgrund von Sichtbehinderungen“ finden Sie hier:
www.grosse-schuetzen-kleine.at/forschungszentrum/publikationen/