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Trauma und COVID-19 – Das Unfallgeschehen während einer außergewöhnlichen Zeit: Fokusreport 2022

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Zusammenfassung

In Österreich tritt das Virus Sars-Cov2 erstmals Ende Jänner 2020 auf. In den beiden
Folgemonaten entwickelt sich der Wintertourismus zum allgemeinen Hotspot und Verbreiter
der Pandemie. Ab Mitte März kommt es zu anwachsenden Einschränkungen des öffentlichen
Lebens und vom 16. März bis zum 13. April kam es zu einem ersten vierwöchigen Lockdown.
Diese umfassende Schließung des öffentlichen Lebens hat dramatische Auswirkungen auf die
Wirtschaft, das Arbeitsleben, das Bildungswesen, die Gesellschaft und den einzelnen
Menschen. Doch die Hoffnung auf eine baldige Normalisierung schwindet nach dem Sommer
2020 gänzlich dahin. Weitere Einschränkungen und Lockdowns folgen sowohl im Spätherbst
2020 wie auch im Spätherbst und Frühwinter 2021.

Diese vorliegende Analyse zeigt die Auswirkungen von Corona und den einhergehenden
Schutzmaßnahmen für die Gesundheit auf das Unfallgeschehen der steirischen Bevölkerung.
Für die Analyse werden die Daten der steirischen Unfalldatenbank herangezogen, wobei die
Gesamtbevölkerung quantitativ und die Kinder und Jugendlichen auch qualitativ betrachtet
werden.

An dieser Stelle sei noch auf die beiden Fokusreports zur Corona-Krise aus den Jahren 2020
und 2021 verwiesen, wobei dieser das gesamte Jahr 2021 mit drei Lockdowns betrachtet und
jener den ersten Lockdown (unter der damaligen Hoffnung der Einmaligkeit und des Endes
der Pandemie im Sommer 2020).

Dieser nun vorliegende dritte Fokusreport über beide Pandemiejahre fasst vor allem quantitativ
die Auswirkungen von Sars-Cov2 auf das Unfallgeschehen, welches eindeutig vom Auf und
Zu, von den Lockdowns und den einhergehenden Einschränkungen des privaten und
öffentlichen Lebens beeinflusst wurde, zusammen.

Diesmal steht die quantitative Betrachtung der StISS – (Styrian Injury Surveillance System)
Unfallzahlen in den Krankenhäusern der steirischen KAGes und die qualitative Analyse der
Unfalldatenbank der Univ. Klinik für Kinder- und Jugendchirurgie Graz im Vordergrund.
Ergänzt wird diese Kurve des Unfallgeschehens mit derjenigen der Gesamtmobilität der
Bevölkerung, welche in diesem Report auf Grundlage der Google-Mobilitätsanalyse erstellt
werden.

In den beiden Jahren der Pandemie werden von der Österreichischen Bundesregierung zum
Schutz des Gesundheitssystems vor einer Überlastung und somit zum Schutz der
Gesundheitsversorgung der österreichischen Bevölkerung im Zeitraum Februar 2020 bis zum
Februar 2022 insgesamt 4 Lockdowns von unterschiedlicher Länge beschlossen und
umgesetzt.

Diese Lockdowns dauern 4, 3, 7 und abermals 3 Wochen, werden jeweils unter anderen
Inzidenz-Voraussetzungen erlassen und von der Bevölkerung leider immer weniger akzeptiert,
was die Mobilitätsdaten zeigen.
Für die Berechnung und Darstellung der Vergleiche gehen wir von den 4 offiziellen Lockdown-
Phasen und weiteren 5 Zwischenphasen aus, welche die markanten Vergleichspunkte in
diesem Report definieren.

Da sich das Corona-Jahr vom Kalenderjahr unterscheidet, wird selbiges zwar mit 365 Tagen
berechnet, der Beginn des Corona-Jahres beginnt jedoch bei dieser Studie mit dem ersten
März. Das Jahr 2020 war darüber hinaus auch ein Schaltjahr, weshalb bei dieser
Periodisierung das Ende des Jahres immer der 28. Februar beschreibt und im Schaltjahr der
29. Februar methodisch ausgeklammert wird.

Für die Einschätzung der Wirkung der Lockdowns wird auf die Google – Mobilitätsdaten
zurückgegriffen. Die Berichte stellen Bewegungstrends in Diagrammform dar, aufgeschlüsselt
nach geografischen Regionen und Kategorien von Orten. Da dies ein spezielles Service von
Google für die Zeit der Pandemie ist, gibt es natürlich keine parallelen Referenzdaten für die
Jahre davor. Der Referenztag wird aufgrund der verfügbaren Daten als der Medianwert der
fünf Wochen vom 3. Januar bis 6. Februar 2020 festgelegt.
Um einen methodisch besseren Abgleich der Google-Mobilitätsdaten mit der Entwicklung der
Unfallzahlen zu haben, wird auch von uns für die vorliegende Untersuchung bei den
Krankenhausdaten des StISS der Referenzzeitraum von Google als starrer Vergleichspunkt
gewählt.

Die Auswertung der Google-Mobilitätsdaten nach den relevanten Hauptkriterien zeigt ein
ähnliches Muster, welches bereits bei der Analyse der Asfinag-Daten sichtbar wurde: Während
der Lockdowns sinkt die individuelle Bedarfsmobilität und erreicht bei den beiden Sommern
„wie damals“ fast Vor-Corona-Werte. Sehr deutlich zeigt sich der dramatische Einbruch der
Mobilität im ersten Lockdown.

Die Ähnlichkeit der Profile von den Mobilitätsdaten und Unfalldaten ist beim Gesamtvergleich
mit 0.89 sehr hoch. Bei den 0 bis 4-Jährigen wird deutlich, dass diese Altersgruppe am
wenigsten von den Einschränkungen betroffen ist. Die 5 bis 9-Jährigen zeigen im Sommer
2021 Datenausreißer nach oben ebenso wie die 10 bis 14-Jährigen. Die Jugendlichen von
15 bis 19 Jahren bilden die Veränderungskurve ziemlich synchron nach. Bei den Erwachsenen
und auch bei den Senioren sehen wir eine starke Synchronität zwischen dem Rückgang der
Mobilität und dem der Unfälle.

Im gesamten Analysezeitraum von Jänner 2018 bis Februar 2022 werden im StISS insgesamt
515.089 Unfälle verzeichnet, welche in einem Spital der Steirischen KAGes ambulant oder
stationär versorgt wurden, und die nun die Grundlage für die Lockdown-Analysen bilden.
Jeder der 4 in Österreich in den Jahren 2020 und 2021 ausgerufenen Lockdowns hatte
unterschiedliche Auswirkungen auf den Rückgang der Unfallzahlen in der jeweiligen Phase.
Der erste Lockdown spiegelt in den Bewegungsprofilen der Menschen, in ihren „Nicht“-
Aktivitäten, die gesamte Anspannung wider. Da in den folgenden Lockdowns die Maßnahmen
als solche nicht ganz ident waren und auch die Compliance der Bevölkerung immer mehr
abnahm, kommt es auch zu einem entsprechenden Rückgang bei der Abnahme der
Unfallzahlen. Konnten wir beim ersten Lockdown noch einen Rückgang von 61 % bei den
Spitalskontakten nach einem Unfall verzeichnen, so beträgt dieser im vierten Lockdown nur
mehr 22 %.

Die Analyse der Verteilung bei den Geschlechtern zeigt kaum auffällige und überhaupt keine
signifikanten Veränderungen. Die Bandbreite bei den männlichen Anteilen schwankt zwischen
53 % und 55 %.
Das durchschnittliche Unfallalter bewegt sich in den Lockdown-Vergleichsphasen zwischen
42,27 bis 42,95 Jahren; in den Lockdown-Phasen allerdings zwischen 43,93 und 46,10 Jahren.
Die Ursache für das höhere Durchschnittsalter im Lockdown wird in den Reduktionen der
Sportanteile und damit einhergehende Unfälle bei den jüngeren Erwachsenengruppen zu
finden sein, während wir bei den jüngsten Kindern und Senior:innen kaum Veränderungen im
Bewegungsmuster und in den Aktivitäten gesehen haben.
Im gesamten Analysezeitraum von Jänner 2018 bis Februar 2022 werden im StISS /
Unfalldatenbank der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendchirurgie Graz insgesamt 56.567
verletzte Kinder und Jugendliche verzeichnet.

Der Vergleich der zwei COVID-Jahre mit den beiden Normaljahren als Referenz davor zeigt
einen Rückgang bei den an der Univ. Klinik für Kinder- und Jugendchirurgie behandelten
Kindern und Jugendlichen von rund 20 %. Eine Aufschlüsselung nach den beiden
Epidemiejahren lässt im COVID-Jahr 2020 mit minus 30 % eine doppelt so große Auswirkung
auf die Unfallzahlen erkennen wie im COVID-Jahr 2021.
Die durchschnittliche Patientenanzahl pro Tag liegt in der Referenzperiode zwischen 36 und
48 jungen Patient*innen. In den beiden COVID-Jahren bewegt sich dieser Tageswert zwischen
18 und 40, wobei der niedrigste Wert dem Lockdown 1 zuzuordnen ist, der höchste hingegen
der langen pandemischen Entspannungsphase zwischen Lockdown 3 und 4.
Der Effekt der Lockdowns, summiert auf die verschiedenen Altersgruppen und auf die vier
Phasen, zeigt deutlich, welch großen Einfluss es durch den ersten Lockdown gab und wie
stark die Altersgruppe der 10- bis 14-Jährigen von den Maßnahmen und Einschränkungen zur
Eindämmung der Pandemie betroffen waren. So ist der summierte Effekt im Lockdown 1 mit
minus 261 %-Punkten dreimal größer als im Lockdown 4, und die Altersgruppe der Älteren ist
mit minus 232 %-Punkten sogar viermal stärker von allen Lockdowns betroffen als die
Jüngsten.

Das Durchschnittsalter der behandelten Kinder beträgt im Referenzzeitraum 8,4 Jahre. Dies
bricht in den ersten beiden Lockdowns um rund ein Viertel ein, sprich die Jüngsten verunfallen
ähnlich häufig wie zuvor bzw. relativ häufiger als die älteren Altersgruppen.
Geschlossene Schulen und Kindergärten, Distance Learning und Quarantäne sind die
Ursache für die drastischen Rückgänge bei den Unfallzahlen in Schule und Kindergarten um
beinahe 100 %. Eingeschränkte oder untersagte Freizeit- und Sportangebote sowie
Vereinssport und Wettkämpfe bedingen in Zeiten eines Lockdowns die entsprechenden
Rückgänge in dieser Kategorie.

Der Rückgang der Unfälle im Straßenverkehr ist bedingt durch keinen Schulweg und wenig
Mobilität für und zu Freizeitaktivitäten aufgrund der geschlossenen Freizeitorte oder
Gasthäuser. Einzig bei den Jugendlichen können wir vor allem im ruralen Umfeld einen Anstieg
der Mopedunfälle beobachten, da diese Altersgruppe offensichtlich trotz der verordneten
Einschränkungen und reduzierten Öffi-Angebote unterwegs (nur Herumfahren oder auch
Freunde besuchen) war.

In einer Gesamtbetrachtung zeigt sich eine geringe Zunahme des Anteils der schweren
Verletzungen in den Corona-Jahren. In einer detaillierten Analyse lässt sich jedoch ein
signifikanter Anstieg des Anteils der schweren Verletzungen von durchschnittlich 27 % auf
33 % vor allem im Lockdown 1 bemerken. Dieser Anstieg um 22 % hier im speziellen und um
10 % generell lässt sich mit einer relativen Reduktion der Bagatellunfälle erklären, da Eltern
aus Angst vor COVID-Infektionen im Krankenhaus in solchen Fällen vor allem ab dem
Volksschulalter die „vorsichtshalber Abklärung“ eher vermieden.

Kaum einen Effekt sehen wir hingegen bei den Veränderungen der Anteile bei der stationären
Behandlung. Auch wenn die Einmalvorstellungen aufgrund von Bagatellverletzungen relativ
geringer geworden, so ist hat sich das Verhältnis bei den stationären Aufnahmen mit 6,9 % in
den Corona-Jahren zu 7,2 % im Referenzeitraum kaum verändert. Weniger Bewegung
bedeutet in letzter Konsequenz auch geringere Unfallenergie und somit weniger bzw. weniger
schwere Verletzungen, die im Krankenhaus behandelt werden müssen.
Das Jahr 2020 ist aus epidemiologischer Sicht ein „besonderes“, eines, welches aufgrund der
veränderten Lebenssituation aller Menschen nicht in das Schema der Vergangenheit passt.
Auch 2021 wird noch nicht hineinpassen, wiewohl oft vieles wieder „alt-normal“ und wider der
aktuellen COVID-Situation gemacht wurde.

Der Ausspruch bzw. das geflügelte Wort „πάντα ῥεῖ (panta rhei = alles fließt)“ wird dem
griechischen Philosophen Heraklit zugeschrieben. Es meint letztlich, dass sich alles verändert.
Und genau deshalb muss sich die Unfallprävention in ihrer Vermittlungsmethodik auch immer
weiterentwickeln, denn die Zielgruppe von Eltern, Kindern und Jugendlichen tut es genauso.
Egal, ob analog mit Papier oder digital per Computer, egal, ob in Präsenz oder via Online –
um die Zielgruppen zu erreichen, müssen die passenden und aktuellen Instrumente und
Werkzeuge aus dem Methodenkoffer herausfiltern werden. Das ist das Um und Auf für die
Vermittlungsarbeit, darüber muss man immer reflektieren – und dieser Herausforderung muss
sich die Arbeit in der Unfallprävention jedes Mal stellen, wenn das „Normale“ plötzlich zum
anderen, aber letztlich „neuem Normalen“ wird. Vielleicht bleibt es, oder es mutiert weiter so
wie das Außergewöhnliche vielleicht auch.

Aus der Sicht der Unfallverhütung führt eine Analyse der Gesamtsituation von 2020 und 2021
zu Meta-Erkenntnissen, die es für die Gegenwart bereits zu beachten, aber auch für die
Zukunft im Falle einer ähnlichen „Katastrophe“ zu berücksichtigen gilt:
Die Pandemie hat die Lebenswelten verändert. Eine andere Pandemie wird ebenfalls
wieder die Lebensgewohnheiten verändern. Sofern nicht die vorrangigen
Bedürfnishierarchien von Survival oder Security betroffen sind, wird Safety eine
entsprechende Rolle spielen.

Der Aktions- und Aktivitätsbereich der Menschen wurde verschoben und verlagert.
Die Unfallverhütung muss rasch die neue Realität analysieren und
die Präventionsaktivitäten darauf abstimmen unter
Verwendung bzw. Entwicklung neuer Kommunikationsmethoden.
Was ist nun die Antwort der Unfallprävention auf diese pandemische Zeit? Resilienz ist der
aktuelle und zentrale Gesundheitsbegriff schlechthin. Resilienz, auch Anpassungsfähigkeit, ist
der Prozess, in dem Personen auf Probleme und Veränderungen mit Anpassung ihres
Verhaltens reagieren.

Dieser Prozess umfasst:
Auslöser, die Resilienz erfordern,
Ressourcen, die Resilienz begünstigen und
Konsequenzen.

Und die zentrale Konsequenz aus der präventiven Hauptforderung zur Eindämmung der
Pandemie, nämlich der Kontaktreduktion zu Mitmenschen, kann nur eine sein: „online“.
Die dynamische Entwicklung im Gesundheitsbereich und die Anforderung zum Schutz des
Menschenlebens bedeuten auch für die Unfallprävention entsprechend dynamisch und flexibel
zu agieren. Nun heißt es nochmals kreativer sein, um Kinder, Eltern und alle, die mit Kindern
leben und arbeiten, in einer pandemischen Situation zielgerichtet und zielgruppengerecht für
Gefahrenquellen im Haus und Garten, im Straßenverkehr, beim Sport und in der Freizeit und
für deren oft einfache, aber effiziente Entschärfung zu sensibilisieren. Unter dem Motto
„Kindersicherheit von der Couch aus“ bleiben vor allem die Wege der Online-
Wissensvermittlung und des Distance Learning erhalten.

Da jedoch der Mensch ein Lebewesen ist, das eine Gemeinschaft braucht, kann die Maxime
bei der Umsetzung nur lauten: „So lange, wie notwendig.“ und nicht „So viel, wie möglich.“
Methoden und Inhalte werden im ersten Schritt an eine aktuelle Situation angepasst. Aber
bereits im nächsten Schritt sollen sie prospektiv optimiert werden, um auch nach dem Ende
der pandemischen Situation weiterhin im effektiven und effizienten Methodenmix von Präsenz,
Online und Hybrid, von Analog und Digital, von Synchron und Asynchron auf Basis von
Excellence und Gold Standard des Blended Learning die zentralen Themen der
Unfallprävention an die Zielgruppen heranbringen zu können.