Zusammenfassung
High Impact Unfälle: Reiten und Mountainbiken
Zwei Beispiele energiereicher Unfallarten
Fokusreport 2024
Das Pferd ist bereits älter als die Menschheitsgeschichte, Reiten und Fahrrad fahren sind Meilensteine in der Geschichte der menschlichen Fortbewegung. Heutzutage kommt beiden eine wichtige Bedeutung beim Freizeitsport zu, beide haben ähnliche Probleme beim Finden legaler Landschaftsräume für die Ausübung, weisen Ähnlichkeiten bei Unfällen, Verletzungen und Schutzausrüstung auf, sind aber vollkommen konträr beim Interesse unter den ausübenden Bevölkerungsgruppen.
Bei diesem Forschungsvorhaben „High Impact Unfälle – Reiten und Mountainbiken als zwei Beispiele energiereicher Unfallarten“ werden zwei häufige und mit schweren Verletzungen einhergehende Freizeitsportarten analysiert
Die Verletzungsschwere bei einem Unfallgeschehen ist eine Kombination mehrerer Faktoren, wobei Geschwindigkeit und Höhe einerseits und die körperliche Widerstandskraft andererseits den Schweregrad der Verletzung(en) wesentlich definieren. Die Geschwindigkeit kann eine aktive (z.B. Fahrradfahren) oder passive (z.B. von einem Objekt getroffen werden) sein, die Höhe definiert sich vor allem durch die Absturztiefe (z.B. von einem Gebäudebereich oder aber auch bei einer Freizeitsport-Ausübung wie Reiten), die körperliche Widerstandskraft besteht in Summe aus den Positionen der persönlichen körperlichen Fitness und der verwendeten Schutzausrüstung.
Für diese Studie wurden alle Kinder und Jugendlichen bis zum Alter von 18 Jahren miteinbezogen, welche an der Univ. Klinik für Kinder- und Jugendchirurgie und für Orthopädie und Traumatologie Graz in den Jahren 2015 bis 2023 nach einem Unfall mit einem Pferd bzw. in Zusammenhang mit Reiten oder nach einem Unfall beim Mountainbiken medizinisch behandelt wurden.
Insgesamt fielen in die Filtergruppe „Reiten“ 1.215 Fälle, die einer qualitativen Analyse unterzogen wurden. An 495 Personen der Behandlungsjahre 2021 bis 2023 wurde zudem ein mehrseitiger Fragebogen ausgesandt, um mehr über die Hintergründe zum Unfallgeschehen zu erfahren. Letztlich konnten 140 Fälle bzw. Fragebögen (dies entspricht einer Rücklaufquote von 28 %) in die erweiterte qualitative Analyse miteinbezogen werden.
Wenn wir den gesamten Zeitraum von 2015 bis 2023 in 3-Jahresperioden abbilden, zeigt sich, dass die Anzahl der behandelten Reitunfälle sukzessive angewachsen ist. Knapp 42 % der Gesamtzahl wurde in den letzten drei Jahren behandelt.
Die Gesamtanzahl der klinisch behandelten Unfälle lässt sich in drei Unfallgruppen gliedern:
- Umgang mit Pferden
- Freizeit-Reitsport
- Voltigiersport
Unfälle in Zusammenhang mit dem Reitsport betreffen 72 % der Gesamtzahl. Vorfälle im Umgang bzw. Kontakt mit Pferden betreffen beinahe ein Viertel dieser Unfallkategorie (wobei nach Fragebogenauswertung ein Viertel einem unmittelbaren Zusammenhang mit Vor- oder Nachbereitungen dem Reitsport zuzuordnen ist) und der Voltigiersport zeichnet letztlich für 4 % verantwortlich.
Pferde und Reitsport sind offensichtlich für Mädchen äußerst attraktiv. Folge dessen sind auch knapp 96 % der behandelten Kinder und Jugendlichen weiblich. Der Altersschnitt bewegt sich um die 12 Jahre. Bei den Verletzungen finden sich beim Reitsport selbst weitaus mehr schwere Verletzungen (39 %) mit einer fast doppelt so großen stationären Behandlungsnotwendigkeit (17 %) wie beim Voltigiersport oder beim Umgang mit einem Pferd.
Während bei der Unfallgruppe „Umgang mit dem Pferd“ die unteren Extremitäten mit knapp 50 % aufgrund des Hinaufsteigens auf den Fuß von einer Verletzung betroffen sind, betrifft dies beim „Reiten“ vor allem die oberen Extremitäten mit 34 % aufgrund der Absturzbewegung vom Pferd. Beim „Voltigieren“ ist die untere Extremität mit 37 % am häufigsten betroffen, wobei diese Verletzungen sowohl durch gewollte Sprünge (geplanter Abgang im Rahmen der Übung) vom Pferd wie auch Notfallsprünge bei missglückten Übungen am Pferd verursacht werden.
Beim „Reiten“ sind 90 % der Verletzungen auf den Sturz vom Pferd zurückzuführen. Innerhalb der verletzten Reitsportler:innen finden sich zu 97 % Mädchen. Sie sind zum Unfallzeitpunkt mit durchschnittlich 12 Jahren zwei Jahre älter als die Buben. Markant ist, dass die Anzahl der Unfallwiederholer mit 11,4 % fast viermal so hoch ist wie im klinischen Gesamtgut.
Bei Reitunfällen finden sich Frakturen mit 27 % am häufigsten, gefolgt von SHTs und diversen Bänderrupturen mit je 6 %. Alle anderen Verletzungen können in die Großgruppe von Prellungen und Wunden eingeordnet werden.
Reiten und Voltigieren sind keine Freizeitsportarten, welche man nur mal so nebenbei hin und wieder ausübt. Daher finden sich hier einerseits hohe Werte bei der Angabe von Routine in der betreffenden Sportart als auch von oftmaliger und engmaschiger Ausübung.
Bei der Schutzausrüstung gehört der Helm beim Reiten selbst einfach dazu. Reithose und Reitstiefel sind Teil der sportadäquaten Grundausstattung. Der Rückenprotektor wird gut von der Hälfte der verunfallten Personen getragen.
Konzentriertheit und realistische Selbsteinschätzung sind wesentliche Faktoren, um das persönliche Unfallrisiko beim Reiten zu minimieren. Dies gaben auch mehr als 70 % als maßgebliche Unfallursache an.
Knapp 40 % gaben an, dass sich das Pferd durch Geräusche erschreckt habe und sie dadurch überrascht gewesen seien. Es sollte in Reitstunden offenbar immer wieder vermittelt bzw. darauf hingewiesen werden, dass Pferde grundsätzlich Fluchttiere sind und daher eher schreckhaft. Somit ist ein zu lockere, relaxte Reithaltung nicht empfehlenswert.
Aber auch bei unbekannten Pferden ist die Herausforderung eine größere. So gaben auch 45 % an, dass das Pferd für sie „neu“ war.
Ein Pferd ist offensichtlich für viele Reitende ein Lebewesen, dem Verantwortung beim Reiten zugeschrieben wird. So sehen nur 19 % sich selbst in der Verantwortung für den Unfall – zumeist ja ein Sturz vom Pferd. Bei knapp jedem zweiten Vorfall (46 %) wird das Pferd für den Vorfall verantwortlich gemacht. Interessanter Weise wird dabei im Freitext des Fragebogens angegeben, dass „sich das Pferd erschreckt hat“, „dass Pferde schreckhaft sind“ oder „dass Pferde Fluchttiere sind“.
Viele der verunfallten Kinder und Jugendlichen sind gleich nach dem Unfall wieder auf das Pferd gestiegen. Bei den Kindern und Jugendlichen geben 35 % an, dass sie an körperlichen und psychischen Folgen leiden. Bei den Eltern wird der Anteil mit 14 % vermerkt.
Eine Verletzung hat denn auch bei dieser Sportart die Konsequenz, dass Personen damit aufhören – entweder es aus eigener Überzeugung oder auf Drängen der Eltern.
In die Filtergruppe „Mountainbiken“ fielen 359 Fälle, die einer qualitativen Analyse unterzogen wurden. An 207 Personen der Behandlungsjahre 2021 bis 2023 wurde zudem ein mehrseitiger Fragebogen ausgesandt, um mehr über die Hintergründe zum Unfallgeschehen zu erfahren. Letztlich konnten 62 Fälle bzw. Fragebögen (dies entspricht einer Rücklaufquote von 30 %) in die erweiterte qualitative Analyse miteinbezogen werden.
Wenn wir den gesamten Zeitraum von 2015 bis 2023 in 3-Jahresperioden abbilden, zeigt sich, dass die Anzahl der behandelten Mountainbikeunfälle sukzessive angewachsen ist. Knapp 46 % der Gesamtzahl wurde in den letzten drei Jahren behandelt. Dies scheint ein verstärktes Interesse am Mountainbiken als Freizeitsportart widerzuspiegeln.
Reiten wie Mountainbiken sind in den letzten drei Jahren innerhalb der Jugendlichen als Freizeitsport immer beliebter geworden. Vorfälle beim Mountainbiken passieren das ganze Jahr über, wobei April bis Oktober die zentralen Ausübungsmonate sind.
Mountainbiken ist für Jungs offensichtlich äußerst attraktiv. Folge dessen sind auch knapp 92 % der behandelten Kinder und Jugendlichen männlich. Der Altersschnitt bewegt sich um die 13 Jahre. Die Unfallwiederholer sind mit 6,6 % zwar deutlich geringer als beim Reiten, dennoch liegt diese Zahl weit über dem Gesamtschnitt.
Aufgrund der hohen Tragequote von Schutzausrüstung wie Helm oder Rückenpanzer sind somit die oberen Extremitäten mit 51 % am häufigsten von einer Verletzung betroffen. Dies spiegelt genauso wie beim Reiten die typische Absturzverletzung wider.
Bei Mountainbikeunfällen finden sich Frakturen mit 36 % am häufigsten, gefolgt von SHTs und diversen Bänderrupturen mit jeweils rund 6 %. Alle anderen Verletzungen können in die Großgruppe von Prellungen und Wunden eingeordnet werden.
Der Großteil der Unfälle passiert mit 59 % typisch als Sturz beim Fahren, wobei der Anteil der schweren Verletzung über 47 % liegt. Danach folgen mit dem Sturz beim Downhill-Fahren (18,4 %) und der versuchte Sprung bzw. die versuchte Landung bei der Bewältigung von sog. Obstacles, wobei die durch Geschwindigkeit und Sprunghöhe größere Unfallenergie auch den Anteil der schweren Verletzungen auf über 60 % anwachsen lässt.
In den Fragebögen gab der Großteil (95,2 %) an, dass das MTB zum Unfallzeitpunkt keine offensichtlichen Mängel gehabt hätte. Mehr als die Hälfte der Fahrräder hatten eine Full Suspension und mehr als ein Drittel verfügte über die 29 Zoll-Reifendimension.
Knapp drei Viertel der Geräte war 2 Jahre oder jünger. Die gängigsten Marken waren Scott, Cube und Canyon, wobei über 80 % im Fachhandel und von mehr als 58 % persönlich im Geschäft gekauft wurde. In der Fragebogengruppe fand sich nur zweimal ein E-MTB unter den Verunfallten.
Der Radhelm zählt zur Standard-Schutzausrüstung beim Mountainbiken. Danach folgen anteilsmäßig Handschuhe und Brillen. Knieschutz kommt von der Häufigkeit her noch vor dem Rückenprotektor. Nur ein Fünftel trägt Clip-Schuhe, wobei gerade das Abrutschen von der Pedale hin und wieder als Unfallursache angegeben wurde.
Der Einzelsturz kommt bei vier von fünf Unfällen letztendlich als die häufigste Unfallart vor. Danach folgt mit 13 % der Anprall an einem Objekt. Dies ist sehr oft ein Baum, was aufgrund der Streckenumgebung bei Trails nicht verwundert.
Auf der einen Seite werden von den Befragten als Risikofaktoren eine unbekannte Strecke wie auch ein neues MTB erwähnt, auf der anderen Seite sind es typische pubertäre, männliche Persönlichkeitsfaktoren wie „Freunden imponieren“, „Fahrkönnen überschätzt“ oder „zu schnell unterwegs“.
Die persönliche Analyse der Unfallsituation zeigt, dass bei rund einem Drittel keine Erkenntnis aus dem Unfallereignis gewonnen wurde. 5 % haben keine verändernde Einsicht gezeigt. Umgekehrt beziehen 42 % das Unfallgeschehen auf das unmittelbare eigene Verhalten und 16 % meinen, dass mit besserer Routine das persönliche Unfallrisiko gesenkt werden könne.
Bei den Kindern und Jugendlichen geben 45 % an, dass sie an körperlichen und psychischen Folgen leiden. Bei den Eltern wird dies bei 21 % vermerkt.
In einer gemeinsamen Betrachtung der beiden Freizeitsportarten Reiten und Mountainbiken wurden letztlich 144 Fragebögen miteinbezogen.
Der Altersschnitt liegt bei beiden rund um 13,5 Jahre. Der Anteil der Burschen beim Mountainbiken mit 95 % entspricht beinahe dem umgekehrten Anteil von Mädchen beim Reiten mit 98 %.
Der Anteil der schweren Verletzung ist beim Mountainbiken mit 66 % beinahe doppelt so groß wie beim Reiten mit 39 %. Die stationäre Versorgung ist allerdings beim Reitunfall mit 14 % etwas höher als beim Mountainbikeunfall mit 11 %.
Die verunfallten Personen schätzen sich bei beiden Unfallgruppen mit mehr als 90 % als sehr routiniert ein.
Der Helm gehört bei beiden Freizeitsportarten vollends dazu, der Rückenprotektor kommt beim Reiten mit 51 % häufiger vor als beim Mountainbiken mit 39 %.
Neues ausprobieren und Ermüdung sind beim Mountainbiken viel häufiger angegeben als beim Reiten. Selbstüberschätzung, Imponiergehabe und Gruppendruck sind für diesen Entwicklungsabschnitt generell typische Persönlichkeitsmerkmale, welche beim Mountainbiken aufgrund der Dominanz der Burschen erwartungsgemäß, aber auch „auskunftsehrlich“ weitaus öfter als beim Reiten angegeben werden.
Bei beiden Freizeitsportarten ist auch eine Auswirkung auf die weitere Ausübung der Aktivität feststellbar, indem nämlich beim Mountainbiken 1,8 % und beim Reiten 1,1 % der Eltern eine weitere Ausübung verbieten. Dies unterstreicht wieder einmal die These, dass Unfälle auch zu einem Bewegungsverbot führen, dass also eine gesunde Bewegung nur dann nachhaltig ausgeübt wird, wenn sie frei von schwerwiegenden Unfällen und Verletzungen ist.
Bei einer binären logistischen Regression der sogenannten Big Five als Persönlichkeitsmerkmale konnten folgende statistische Zusammenhänge einer schweren Verletzung mit unterschiedlichen Merkmalen festgestellt werden:
- Eine schwere Verletzung hängt nicht mit einzelnen Persönlichkeitsmerkmalen innerhalb des Big Five Kataloges zusammen.
- Eine schwere Verletzung hängt nicht mit dem Geschlecht und der Ausübungsgruppe Reiten oder Mountainbiken zusammen.
- Eine schwere Verletzung hängt mit der Ausübungsgruppe Reiten bzw. Mountainbiken zusammen. So ist statistisch signifikant eine schwere Verletzung beim Mountainbiken um den Faktor 3 wahrscheinlicher als beim Reiten.
Es gibt auf Basis der vorhandenen Angaben in den Fragebögen der beiden Gruppen Reiten und Mountainbiken keine Unterschiede, was die Persönlichkeitsstruktur von den männlichen Mountainbikern und den weiblichen Reiterinnen betrifft. Das heißt,
- dass beide Ausübungsgruppen ähnliche Persönlichkeitsmerkmale aufweisen,
- dass man unabhängig vom Geschlecht für das Ausüben bzw. für die Liebe zum Hobby zu einer der beiden Freizeitsportarten ähnlich „ticken“ dürfte.
- Stärkere Extraversion (Abenteuerlust, Thrill) und geringere Gewissenhaftigkeit (Selbstkontrolle) findet sich bei den Burschen und somit bei den Mountainbikern.
Zentrale Inhalte für die Unfallprävention für beide Freizeitsportarten sind:
- Die Ausübungsgruppen befinden sich in der Pubertät und ticken bei den Themen Sicherheitsverhalten und Risikolust ähnlich. Daher ist ein Safety Coaching durch die Eltern bzw. Trainer:innen gerade aufgrund dieser Entwicklungsphase von großer Bedeutung.
- Eine bekannte Strecke verlockt zu mehr Lockerheit. Routine beeinflusst das Unfallgeschehen letztlich negativ.
- Bei neuem Material, sowohl MTB als auch Pferd, ist größere Vorsicht geboten und ein Herantasten mit größerer Konzentration angeraten.
- Aufgrund der großen Unfallenergie ist das Tragen adäquater Sportkleidung und Schutzausrüstung unabdingbar.
- Ausbildungs- und Trainingsstunden mit Trainer:in oder bzw. Reitlehrer:in sind bei diesen beiden Sportarten unbedingt notwendig.
- Vor einer Trainingsstunde ist es sinnvoll, nicht nur den Körper aufzuwärmen, sondern auch den Kopf in einem Safety Circle mit einem Risk Briefing innerhalb der Trainingsgruppe. Hierbei sollen die zentralen Themen von Sicherheit und Sporttechnik gemeinsam geteasert und allenfalls spezielle Herausforderungen für das kommende Training bereits angesprochen werden.
- Nach einem Unfall sollte eine Ursachenanalyse im Sinne einer Lernmöglichkeit in das Training integriert werden.
Dieser Fokusreport wurde unterstützt vom Land Steiermark - Wissenschaft und Forschung