„Der tut nix!“ – oder doch?!: 800 Kinder jährlich von Hunden gebissen
„Der tut nix!“, sagen viele HundehalterInnen über ihren geliebten Vierbeiner – und doch müssen rd. 800 Kinder jährlich nach einem Hundebiss im Spital behandelt werden. Zumeist beißt der Hund von Großeltern oder Tante und Onkel. Hunde können eine große Bereicherung für Familien sein. Klare Regeln im Umgang mit dem Vierbeiner sind jedoch unerlässlich, um schwere Unfälle zu vermeiden. In einer Studie des Vereins GROSSE SCHÜTZEN KLEINE und des Landes Steiermark wurden sämtliche Gefahrenpotenziale und Unfallmuster untersucht.
„An der Univ.-Klinik für Kinder- und Jugendchirurgie Graz werden pro Jahr rd. 60 Kinder nach einem Hundebiss behandelt. Für Österreich muss man mit 800 Beißattacken von Hunden gegen Kinder rechnen, für die Steiermark mit 120“, so Univ.-Prof. Dr. Johannes Schalamon, Vizepräsident des Vereins Grosse schützen Kleine und stellvertretender Leiter der Abteilung für Kinder- und Jugendchirurgie am LKH-Univ. Klinikum Graz.
Meist beißt der Hund von Großeltern oder Tante und Onkel
In der Studie „Verletzungen durch Hundebisse bei Kindern bis zum 14. Lebensjahr“ untersuchten Univ.-Prof. Dr. Holger Till, Präsident des Vereins GROSSE SCHÜTZEN KLEINE und Vorstand der Grazer Univ.-Klinik für Kinder- und Jugendchirurgie und Dr. Peter Spitzer vom Forschungszentrum für Kinderunfälle des Vereins GROSSE SCHÜTZEN KLEINE die Unfallhergänge von 296 Kindern, die zwischen 2014 und 2018 nach einer Verletzung durch einen Hund an der Grazer Univ.-Klinik für Kinder- und Jugendchirurgie behandelt wurden. Rd. Dreiviertel dieser Unfälle waren Hundebisse, der Rest Verletzungen durch z.B. Umgeworfen werden vom Hund oder Stolpern über die Leine.
Besonders auffällig: In nur 23 % der Fälle biss der eigene Hund. Fast jeder zweite Biss wurde durch einen „bekannten“ Hund, also zumeist durch den Hund von Großeltern, Onkeln und Tanten oder Nachbarn, verursacht. Bei einem Viertel der Vorfälle war ein dem Kind gänzlich fremder Hund beteiligt. Die Kinder, die vom Hund der Großeltern oder vom Hund von Tante/Onkel gebissen wurden, waren durchschnittlich die Jüngsten. „Das bedeutet, dass im erweiterten familiären Umfeld des Kindes großer Aufholbedarf an Wissen über die Thematik Hund/Kind gegeben ist. Dieses Problem spiegelt sich auch im Anteil der schweren Verletzungen wider: dieser liegt bei den Hundehaltern Großeltern und Onkel/Tante weit über dem Durchschnitt“, gibt Spitzer zu bedenken.
Jüngere Kinder werden oftmals in den Kopf gebissen
Aufgrund der Körpergröße des Kindes im Vergleich zum Hund war bei jedem zweiten Vorfall der Kopf betroffen, in 27 % der Fälle die Arme/Hände, in 20 % der Fälle die Beine/Füße und in 8 % der Fälle der Rumpf/das Becken. „Je jünger das Kind, desto höher die Wahrscheinlichkeit für eine schwere Bissverletzung und eine Verletzung des Kopf-/Halsbereichs. Jedes zehnte Kind wurde infolge des Hundebisses stationär aufgenommen. Die Wunden mussten wir hier zumeist operativ versorgen“, so Schalamon. Ein Drittel erlitt eine tiefere Bisswunde. Sechs von zehn Kindern kamen mit einer leichten Verletzung davon, also mit oberflächlichen Kratzern oder nicht sehr tiefen Bisswunden. Im Durchschnitt war das verletzte Kind sechseinhalb Jahre alt. Genauso viele Mädchen wie Buben waren in Unfälle mit dem Hund verwickelt. Zumeist wurden die Kinder beim Spielen mit dem Hund gebissen, gefolgt vom Vorbeilaufen/-krabbeln und Streicheln. 15 % der in der Studie befragten Eltern gaben an, dass ihr Kind gesundheitliche Folgen des Bisses (meist Narben) hatte. Etwa jedes zweite Kind leidet bzw. litt nach dem Unfall an Angst vor Hunden.
Beißrisiko höher wenn Hund vor Kind in der Familie war
In 82 % der Fälle war der Hund bereits vor der Geburt des gebissenen Kindes in der Familie. Das Kind war zu diesem Zeitpunkt also das jüngste „Rudelmitglied“. Daraus kann man ableiten, dass man mit der Anschaffung eines Hundes idealerweise warten soll bis das jüngste Kind das Schulalter erreicht hat“, so Spitzer.
Betrachtet man die Hunderassen, so zeigt sich, dass der Mischling, der Schäferhund und der Golden Retriever an vorderster Stelle der beißenden Hunde zu finden sind. Grundsätzlich ist man natürlich bei keiner Hunderasse vor einem Biss gefeit.
Kinder können Warnsignale des Hundes erst mit acht bis zehn Jahren erkennen
Erst ab dem Schulalter sind Kinder in der Lage gewisse Schutzmaßnahmen vor Hundebissen umzusetzen. Die richtige Einschätzung des Hundes und seiner Körpersprache im Sinne eines Warnsignals ist erst ab frühestens acht Jahren möglich. Bei Kleinkindern und Kindergartenkindern liegt es also komplett an den Erwachsenen, das Kind vor Verletzungen durch Hunde zu schützen. Gerade jüngere Kinder sehen den Hund zudem oftmals als „Kuscheltier“. Diese falsche Einschätzung wird durch Filme mit vermenschlichten, sprechenden Hunden etc. noch verstärkt.
Mit Kinder-Tier-Workshops und Informationsbroschüren richtigen Umgang vermitteln
Tödliche Unfälle mit Hunden sind sehr selten: Seit 2006 starben in Österreich zwei Kinder nach einem Hundebiss. Im Vergleich mit einer Studie des Vereins GROSSE SCHÜTZEN KLEINE aus dem Jahr 2006 zeigt sich, dass der Anteil der schweren Verletzungen infolge von Hundebissen stark zurückgegangen ist, und zwar von 22 % auf 8 %. „Uns ist es sehr wichtig, Eltern und Kindern den richtigen Umgang mit dem Hund zu zeigen. In den letzten zehn Jahren haben wir rd. 100 Kinder-Tier-Workshops, u.a. mit dem Kleintierzentrum Graz-Süd, dem Grünen Kreuz und Hundeschulen in unseren KinderSicheren Bezirken, organisiert und über 20.000 Infobroschüren verteilt. Denn Bewusstseinsbildung ist das Um und Auf, um schwere Verletzungen durch Hundebisse zu verhindern“, betont Till.
Land Steiermark lässt Studienergebnisse in Präventionsmaßnahmen einfließen
Landesrat Anton Lang: „Die Steiermark gehört bundesweit zu den hundereichsten Bundesländern. Die Erhöhung der Sicherheit beim Zusammenkommen von Hunden & Menschen bzw. Hunden & Kindern ist mir besonders aufgrund der immer wieder vorkommenden Bissattacken durch Hunde ein äußerst wichtiges Anliegen. Nicht zuletzt deshalb haben wir auch die nun vorliegende Hundebiss-Studie – initiiert vom Verein GROSSE SCHÜTZEN KLEINE und unserer Tierschutzombudsfrau – maßgeblich unterstützt. Aus meiner Sicht können Maßnahmen wie die viel diskutierten Rasselisten oder ein Maulkorbzwang viele dieser Unfälle leider nicht verhindern, denn im eigenen Haushalt wird der Hund in der Regel keinen Maulkorb tragen. Die Studie belegt auch eindeutig, dass sich Bissattacken am häufigsten im privaten Bereich ereignen.
Vor allem ein verantwortungsbewusster Umgang mit Hunden kann Beißunfälle verhindern. Aufklärung und umfangreiche Schulung von Hundebesitzern ist dabei oberstes Gebot. Bereits jetzt unterstützen wir das ständig wachsende Projekt „Pet Buddy“ des Vereins „Tierschutz macht Schule“ an steirischen Volksschulen. Dieses Projekt ermöglicht es Kindern in der Gemeinschaft ihrer SchulkameradInnen, den sicheren Umgang mit Heimtieren zu erlernen und die Bedürfnisse der Tiere zu erkennen. Durch das direkte Erleben und Umsetzen vor Ort ergibt sich ein hoher Lerneffekt, der auch nachhaltig wirkt.
Die Erkenntnisse der aktuellen Hundebiss-Studie werden wir auf jeden Fall in unsere weiteren Präventionsmaßnahmen einfließen lassen. Denn: Jeder Unfall ist einer zu viel!“
Tierschutzombudsstelle: Bewusstseinsbildung statt „Rasselisten“
Tierschutzombudsfrau Dr.in Barbara Fiala-Köck: „Die Analyse der Hunderassen und die Verteilung zeigen, dass im großstädtischen Raum generell kleinere Hunde gehalten werden. Mischlinge, Schäferhunde und Golden Retriever sind in der Statistik der beißenden Hunde an vorderster Stelle zu finden. Dies zeigt, dass die Einstufung bestimmter Rassen als gefährlich bzw. „Rasselisten“ aus Tierschutzsicht kein geeignetes Instrument darstellen, die Unfälle mit Hundebeteiligung zu reduzieren.
Hunde sind fühlende, denkende Lebewesen mit entsprechenden Bedürfnissen und Verhaltensweisen und sind weder Kuscheltier noch Spielzeug.
Hunde verfügen über eine arteigene Sprache und zeigen durch Signale deutlich an, ob sie sich in bestimmten Situationen wohl fühlen. Es liegt daher an uns, Hunde in ihren persönlichen Bedürfnissen wahrzunehmen anstatt Tiere ausschließlich zum Zweck der Erfüllung unserer Bedürfnisse (nach Nähe, Gesellschaft,…) zu halten.
Verstärktes Augenmerk ist daher auf Bewusstseinsbildung bei Eltern, Kindern und im familiären Umfeld zu legen, um einen verantwortungsbewussten Umgang mit Hunden von Kindesbeinen an zu fördern. Dafür setzt sich auch die Tierschutzombudsstelle Steiermark intensiv ein.
Oberste Prämisse sollte stets sein: „Lassen Sie Kind und Hund nie allein!“, da Kinder das hündische Ausdrucksverhalten noch nicht richtig deuten können.“
Empfehlungen zur Vermeidung von Hundebissen
Zusammenfassung der Erkenntnisse aus dem Fokusreport des Vereins GROSSE SCHÜTZEN KLEINE und anderer internationaler Studien:
Zentrale Botschaften:
- Informieren Sie Ihr Kind über den richtigen Umgang mit dem Hund! Weisen Sie auf die natürlichen und „wilden“ Verhaltensmuster des Tieres hin! Vermeiden Sie falsches Zutrauen oder Verniedlichung! Gefahr lauert nicht nur bei großen, „gefährlich aussenden“ Hunden, auch beim eigentlich vertrauten friedliebenden Haustier ist generell Vorsicht geboten.
- Verwenden Sie für Ihren Hund in der Öffentlichkeit konsequent Leine und Beißkorb!
- Verbieten Sie dem Kind, ein fressendes oder schlafendes Tier zu stören!
- Schaffen Sie sich keinen großen Hund an, wenn Sie ein Kleinkind in der Familie haben (v.a. keinen Schäferhund)! Wenn noch kein Hund in der Familie ist, sollte dieser erst angeschafft werden, wenn das jüngste Kind das Schulalter erreicht hat.
Anschaffung eines Hundes:
- Information, ob die Rasse zu den persönlichen Möglichkeiten passt
- Kauf einer bestimmten Hunderasse nicht nur aufgrund eines aktuellen Modetrends
- Anschaffung eines Hundes nicht vor einem Kind (Rangfolge – Eifersucht)
Bewusstseinsbildung:
- „Training“ bei Kindern bis zum Volksschulalter nur bedingt erfolgreich
- Risikobewusstsein entwickelt sich erst bis Ende Volksschulalter
- Hundesprache wird bis zum Volksschulalter nur ungenau erkannt und interpretiert
- Gesichtsmimik des Hundes täuscht Kinder oftmals (ungewollt!) Traurigkeit und Kuschelbedürfnis vor
- Hundefilme, v.a. mit sprechenden Hunden, vermitteln jüngeren Kindern ein falsches Tierbild
- Kindern gegenüber dem eigenen Hund die Grenzen klar aufzeigen und abstecken
- Verhalten gegenüber bekanntem Hund genau definieren
- Striktes Verbot fremde Hunde anzugreifen
Beaufsichtigung:
- Familieneigene Hunde möchten mit Babys und Kleinstkindern unter Umständen nur spielen und sie ziehen oder weitertragen. Ihre Beißkraft kann dabei jedoch bereits – vom Hund ungewollt – zu schwerwiegenden Verletzungen führen.
- Kinder unter fünf Jahren nicht mit einem Hund alleine lassen!
- Schaukelnde Kinder sind eine sehr interessante „Beute“
- Vorsicht bei altersmäßig jungen HundehalterInnen – diese sind oft mit der Aufsicht überfordert
- Größte Vorsicht bei mehreren Hunden (fühlen sich im Rudel noch stärker)
- Fremde Hunde in der Öffentlichkeit eher gereizt und „beißfreudig“ (Stress)
- Abstand zu liegenden fremden Hunden halten (in der Öffentlichkeit, im Lokal)
Verhaltenskodex für den richtigen Umgang mit Hunden:
- Riechen ist für Hunde ein wichtiges Kommunikationsmittel => Vor dem Streicheln erst beschnuppern lassen
- Hunde jagen gerne alles, was läuft => Nicht an Hunden vorbeilaufen
- Hunde laufen schneller als Menschen => Nicht versuchen davonzulaufen
- Schreien kann aggressives Verhalten hervorrufen => Ruhig bleiben
- Ein Hund ist kein Stofftier oder Spielzeug => Hunde nicht umarmen oder küssen
- Direkter Augenkontakt könnte als Aggression gedeutet werden => Direkten Augenkontakt vermeiden
- Hunde beißen meist in Arme, Beine und Kopf/Hals => Bei Angriff ruhig stehen bleiben (Beine zusammen), Kopf/Hals mit Armen und Händen schützen
- Am Boden liegen kann Angriffe provozieren => Aufstehen; Bei Angriff im Liegen, Gesicht zu Boden; Ohren mit Händen bedecken; Nicht bewegen
- Kämpfende Hunde beißen alles in ihrer Nähe => Bei einem Hundekampf nicht dazwischen gehen