Zusammenfassung
Der tote Winkel verhindert oder vermindert die Sicht des Fahrers auf das Geschehen. Im toten Winkel liegen jene Bereiche außerhalb des Fahrzeugs, die der Fahrer trotz der Spiegel nicht einsehen kann. Auch wenn der tote Winkel vor allem mit den sogenannten großen Fahrzeugen wie Lkw oder Bus in Verbindung gebracht wird, so verfügen auch Pkw über tote Winkel. Bei einem Lkw fällt natürlich die Sichteinschränkung deutlich größer aus als beim Pkw. Und auch die Unfallfolgen, sprich die Schwere der Verletzung, sind bei einem Konflikt mit einem Lkw massiv größer.
Im ersten Abschnitt der Studie werden die unterschiedlichen Arten und Größen eines toten Winkels bei verschiedenen Fahrzeugarten dargelegt.
Im anschließenden Teil werden typische Verkehrsunfälle in Zusammenhang mit dem toten Winkel aus Medienbeobachtungen exemplarisch angeführt, welche das gesamte Spektrum der Problematik in der Verkehrsrealität abbilden. Auch wenn die Auswahl an Online-Pressemeldungen zufällig erfolgt ist, zeigt sie jedoch einen repräsentativen Querschnitt der medialen Berichterstattung mit folgenden Merkmalen:
- Überwiegen der Senior:innen-Altersgruppe
- Großer Anteil von Radfahrer:innen
- Konflikthäufigkeit mit Lkw
- Übermaßen häufiger tödlicher Ausgang
- Entschuldigende Wortwahl mit gleichzeitiger Beschuldigung „… Lkw -Lenker:in hat die Person nicht gesehen…“. Es wird nie erwähnt, dass die verletzte oder getötete Person
„…zu wenig Umsicht als Radfahrer:in oder Fußgänger:in hat walten lassen…“.
Aktuelle Maßnahmen zur Vermeidung dieser Art von Unfällen reichen von Spiegel- und elektronischen Assistenzsystemen bei Lkw und Bussen bis hin zu warnenden Aufklebern auf den Fahrzeugen. Dies alles ist teilweise EU-weit oder Staaten spezifisch auch vorgeschrieben.
Aber was helfen z.B. warnende Aufkleber, wenn beinahe jede:r zweite Verkehrteilnehmer:in mit dem Begriff des „Toten Winkels“ nichts anfangen kann und diesen bis zu zwei Drittel aktiv
nicht zufriedenstellend erklären können.
Der nachfolgende Schwerpunkt in diesem Report behandelt die Entwicklung der kindlichen Wahrnehmung von Verkehr und deren Gefahren. Der Entwicklungsstand eines Kindes und seine psychomotorischen Fähigkeiten sind ausschlaggebend dafür, ob und wie ein Kind die Gefahren des täglichen Lebens erkennen, mit ihnen umgehen und präventive Maßnahmen ergreifen kann. Der Ausschnitt aus einer Studie über die Verkehrswahrnehmung im Volksschulalter zeigt die Veränderung der kindlichen Einschätzung von Verkehrssituationen hinsichtlich „sicher“ und „unsicher“ und die Problematik, dass aufgrund der Entwicklungsschritte erst gegen Ende des Volksschulalters, also mit 9 und 10 Jahren, die richtige Einschätzung immer besser wird – eine signifikante Änderung gibt es von der Grundstufe 1 auf Grundstufe 2. Im Gesamtschnitt jedoch werden nur drei von vier Testbeispielen richtig erkannt.
Je jünger die Kinder sind, desto schwieriger ist die Beurteilung und desto wichtiger ist für die Beurteilung das Vorhandensein eines Autos. Und wenn dieses Auto durch ein Sichthindernis abgedeckt ist, dann kann und wird es bei den jüngeren Kindern für eine Gefahrenbeurteilung auch nicht herangezogen.
Die größten Schwierigkeiten haben die Kinder, wenn sie Situationen aus ihrem Blickwinkel einschätzen müssen. Hier zeigt sich, dass durch den eingeschränkten Sichthorizont und der noch nicht ausgereiften Fähigkeit, die gesamte Verkehrssituation weiterzudenken, den Kindern im Volksschulalter noch entsprechende Grenzen gesetzt sind, die das größere Risiko der Fehleinschätzung und eines möglichen Unfalls begründen. Erst in der Grundstufe 2 und hier vor allem erst bei den 10-Jährigen kommt es zu einer signifikanten Verbesserung der
Beurteilungskompetenz.
Grundlage für die Entwicklung von aktiven Präventionsstrategien im Straßenverkehr ist das Wissen um diese körperlichen und psychologischen Entwicklungsschritte der Kinder, und damit verbunden das Wissen über das, was sie bereits können bzw. noch nicht können. Um das 10. Lebensjahr kann man von einem großen Reifegrad der zentralen Entwicklungsbereiche bei Kindern ausgehen, jedoch wird die nun nachfolgende Adoleszenz durch die Umstrukturierung im Gehirn sehr oft und dominant „Fun & Risk“ auf den Bedürfniskatalog der Jugendlichen schreiben, und die Ratio im präfrontalen Kortex hinkt mit ihrem Reifegrad bis um das 20. Lebensjahr noch immer hinten nach. Somit hätten Jugendlichen zwar ausreichende Fähigkeiten und ausreichendes Wissen, an der Anwendung und in der praktischen Umsetzung wird es jedoch noch länger hapern.
Für ein unfallfreies Bewältigen des Straßenverkehrs sind Sinne wie Sehen und Hören unumgänglich. Vor allem für das Wahrnehmen einer Gefahr und das Erkennen von Aufmerksamkeit oder Ablenkung beim anderen Verkehrsteilnehmer sind sie essentiell. Beim Menschen ist Sehen genauso wie Hören, Laufen und Sprechen angeboren. Es will aber ebenso wie die anderen Fähigkeiten des Menschen erst gelernt sein. Monat für Monat trainieren die jungen Augen. Auch wenn das Sehen altersgerecht entwickelt ist, müssen natürlich die Kinder trainieren, auf welche Dinge und Situationen sie im Straßenverkehr ihr Augenmerk besonders zu lenken haben, und im nächsten Schritt dann das Gesehene korrekt interpretieren.
Gut sehen, in die richtigen Richtungen schauen und die Umgebung aufmerksam wahrnehmen sind das A und O für eine sichere Verkehrsteilnahme.
Im Hauptteil dieses Reports werden diejenigen Verkehrsunfälle analysiert, welche im Zusammenhang mit Sichtbarkeitsproblemen einzuordnen sind. Die Datenbasis bildet die Verkehrsunfallstatistik der Statistik Austria, wobei auf die Unfallzahlen der Jahre 2015 bis 2019 zurückgegriffen wird. Im Jahresschnitt gibt es knapp 38.000 Unfälle mit 47.000 verletzten und
430 getöteten Verkehrsteilnehmer:innen. Aus all den verzeichneten Unfällen werden diejenigen, bei denen „gesehen werden“ und „toter Winkel“ einen markanten Beitrag zum Unfallereignis geleistet haben dürften, für die nachfolgende Analyse definiert und gefiltert. Letztendlich sind aus den rund 186.000 Verkehrsunfällen der Jahre 2015 bis 2019 mit knapp 40.000 relevanten Unfällen im 5- Jahresschnitt 21,5 % dem Unfalltypus „sehen und gesehen werden“ und „toter Winkel“ zuzurechnen. Vorausgeschickt werden muss, dass in keinem der sogenannten D-A-CH-Länder der Begriff des toten Winkels als Unfalltypus in der Matrix der Aufnahme eines Verkehrsunfalls vorhanden ist. Daher kann die Verkehrsunfallstatistik nur auf Basis einer Annäherung bei den Unfalltypen dahingehend interpretiert werden.
Innerhalb dieser relevanten Unfälle sind sowohl bei den Verkehrsunfällen als auch bei den verletzten und getöteten Personen 96 % der Unfallkategorie „Toter Winkel“ zuzuordnen, was einem Anteil von 20 % am gesamten Unfallgeschehen auf Österreichs Straßen entspricht. Nur 4 % sind eher dem Bereich „gesehen werden“ zuzurechnen.
Bei den 39.968 Verkehrsunfällen sind Fußgänger, Radfahrer und Mopedfahrer mit je einem Drittel der Unfälle beinahe gleichmäßig betroffen. Die vom Verkehrsunfall betroffenen und verletzten Personen werden zu 91 % von einem Pkw als Unfallgegner erfasst. Der Lkw ist in 7 % der Unfälle involviert.
Mit einem Anteil von 89 % passieren die Unfälle zumeist im Ortsgebiet, wobei nur bei einem kleinen Anteil von 11 % Verkehrsampeln zum Zeitpunkt des Unfallgeschehens in Vollbetrieb
waren. Der Großteil der Unfälle passiert mit 85 % bei Tageslicht. Somit kann man zusammenfassend festhalten, dass ein Unfall mit der Problematik von „sehen und gesehen werden & toter Winkel“ im Ortsgebiet, bei guten Lichtverhältnissen zumeist von einem Pkw verursacht wird.
Bei der Gesamtzahl von 39.968 Unfällen sind in Summe 41.573 Personen von einer (tödlichen) Verletzung betroffen. Diese größere Zahl ist darauf zurückzuführen, dass es bei dem einen
oder anderen Unfall mehr als eine:n Fußgänger:in oder eine:n Mitfahrer:in am Fahrrad oder Moped gegeben hat. Dies bedeutet letztendlich, dass in rund 4 % der Fälle mehr als eine Person verletzt wurde.
Die betroffenen „schwachen“ bzw. „Knautschzone freien“ Verkehrsteilnehmer:innen gehören zu 36 % zu den Fußgänger:innen, zu 33 % zu den Radfahrer:innen und zu 31 % zu den Mopedfahrer:innen. Nutzer:innen von Spiel- und Sportgeräten (v.a. Scooter) sind zu 1 % in der Gesamtzahl der Unfallopfer vertreten.
Eine detaillierte Betrachtung der Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen (0 bis 19 Jahre) lässt die mit dem Alter wachsende Exposition im und verstärkte Teilnahme am Straßenverkehr sehr gut erkennen. Am gefährdetsten innerhalb der „schwachen“ Modalarten sind die 15- bis 19-Jährigen, die eigentlich mit Fahrrad-, Moped- und Autoführerschein viel an Verkehrswissen
gelehrt bekommen haben. Es scheint jedoch am Transfer dieses Wissens in die Verkehrsrealität, aber auch an Verkehrsempathie und Rücksichtnahme bis hin zum Nachgeben trotz eigenem Vorrang („Ich bin im Recht!“) zu mangeln.
Bei den Verletzungen handelt es sich auf Basis der UDM in 77 % der Fälle um leichte Verletzungen. Bei 22 % der verletzten Personen muss von schweren Verletzungen ausgegangen werden und 1 % der sogenannten „schwachen“ Verkehrsteilnehmer:innen wurde bei einem Unfall des Unfalltypus „sehen und gesehen werden & toter Winkel“ tödlich verletzt.
61 % der tödlichen Verletzungen sind bei den Fußgängern zu verzeichnen, der geringste Anteil ist beim Spiel- und Sportgerät mit nur 1 % zu finden.
Innerhalb der Modalgruppe findet sich mit 2 % der größte Anteil tödlicher Verletzungen beim Fußgänger, der kleinste mit 0,5 % hingegen beim Radfahrer.
Eine Relativierung der Anteile am Unfall insgesamt und der Anteile an den tödlichen Verletzungen zeigt bei den Fußgängern ein überproportional hohes Risiko für eine tödliche Verletzung. Dieses liegt beim Radfahren und bei Spiel- und Sportgeräten im Vergleich zum Fußgänger bei einem Viertel bzw. Drittel.
Es ist interessant, dass gerade der Fußgänger als langsamster Verkehrsteilnehmer und derjenige mit dem größten und leichtesten Rundumblick so oft in einen Unfall verwickelt ist und so stark überproportional eine tödliche Verletzung erleidet. Den größten Anteil innerhalb der tödlichen Verletzungen sehen wir mit 71 % vom Pkw verursacht. Eine Differenzierung der tödlichen Verletzungen nach Unfallgegner zeigt aber, dass der Anteil des Lkws 3,8 % beträgt, Unfälle mit Pkw hingegen mit 0,9 % „nur“ mehr ein Viertel davon. Man kann also deutlich einen Zusammenhang von tödlicher Verletzung und Größe bzw. Massigkeit des „starken“ Unfallgegners erkennen.
Die relative Verteilung der Anteile der starken Unfallgegner am gesamten Unfallgeschehen einerseits und bei den tödlichen Verletzungen andererseits zeigt, dass der Pkw und der Bus (vor allem im Sinne des ÖVM) sich um den ausgeglichenen Wert 1 bewegen. Der Lkw mit einer Ratio von 3,2 und der Traktor sogar mit einer von 6,0 zeigen ganz klar die tödliche Gefahr auf, die von diesen Fahrzeugen aufgrund ihrer Größe und der dramatischen Umfeld-Blickeinschränkungen ausgeht.
Zum Herausfinden von Auffälligkeiten wurden in multivariaten Berechnungen die Variablen
- schwacher Verkehrsteilnehmer
- starker Unfallgegner
- Altersgruppe
- Geschlecht
- Verletzungsschwere
- Abbiegerichtung starker Unfallgegner
in die Berechnungen miteinbezogen.
ERGEBNISSE IN ZUSAMMENHANG MIT DER VERLETZUNGSSCHWERE
- Die Altersgruppe der Jüngsten und die der Ältesten zeigt als Fußgänger einen starken Zusammenhang für schwere Verletzungen mit allen Unfallgegnern.
- Bei den Radfahrern ist für die Altersgruppe 65 plus ein großes Risiko für schwere Verletzungen vorhanden.
- Beim Mopedfahren sind vor allem die männlichen Zeitgenossen jeglichen Alters von einer großen Häufigkeit bei den schweren Verletzungen betroffen.
- Erwartungsgemäß sind Spiel- und Sportgeräte (Stichwort Scooter) bei den Jüngsten ein großes Thema und dementsprechend auch in dieser Altersgruppe mit einem großen Risiko für eine schwere Verletzung verbunden.
- Bei den tödlichen Verletzungen ist ein eindeutiger Zusammenhang mit der ältesten Bevölkerungsgruppe in allen Modalgruppen gegeben.
ERGEBNISSE IN ZUSAMMENHANG MIT BEWEGUNGSRICHTUNGEN
- Bei Kollisionen mit einem Unfallgegner, der sich gerade aus bewegt, sind Fußgänger als Überquerende einer Fahrbahn bzw. als unmittelbar vor dem Fahrzeug Vorbeigehende signifikant häufig betroffen.
- Beim links abbiegenden Unfallgegner sind Mopedlenker:innen besonders gefährdet. Dies könnte unter Umständen damit zusammenhängen, dass sie im Gegenverkehr zu spät oder gar nicht wahrgenommen werden bzw. dass deren Geschwindigkeit (ob nun regelkonform oder nicht) unterschätzt wird.
- Die Unfallgefahr beim Rechtsabbiegen stellt eindeutig der Lkw dar, wobei bei diesem nicht die alleinige Schuld des Verursachens gesehen werden darf. Die Gestaltung der Kreuzung und auch die Annäherung des schwachen Verkehrsteilnehmers sind wichtige Komponenten, um das Gefährdungspotential zu entschärfen.
Letztendlich werden nicht alle Unfälle mit tödlichen oder schweren Verletzungen zu verhindern sein. Spezielle Einzelsituationen wird es immer geben, bei denen alles Negative zusammengekommen ist. Dennoch kann die Verkehrserziehung in der Schule wie auch erweiternde Inhalte in der Ausbildung bei den verschiedenen Führerscheinklassen einen elementaren Beitrag zu größerer Verkehrssicherheit und weniger Unfallzahlen im Konfliktfeld „gesehen werden“ und „toter Winkel“ leisten.
Dazu schlagen wir folgende MASSNAHMEN vor:
- Verantwortungsvolle Unfallverhütung zwischen den Polen „Beschützen“ und „Erziehen“
- Präventionsarbeit: effektiv und effizient in einer sinnvollen Balance von „so viel wie nötig“ und nicht „so viel wie möglich“.
- Strukturierte Verkehrserziehung von der 1. bis 9. Schulstufe
- Vermittlungsthemen und -inhalte, welche die Vor- und Nachteile der verschiedenen Arten von Verkehrsteilnahme erarbeiten und zu einem rücksichtsvollen Zusammenleben im Verkehrsraum führen
Die Verkehrs-, Sicherheits- und Mobilitätsausbildung in Schule und Fahrschule soll ermöglichen, dass durch Rollenspiel und Rollentausch der einzelne Kursteilnehmer die Vor- und
Nachteile und Stärken wie Schwächen der verschiedenen Arten der Verkehrsteilnahme und die grundlegenden altersbedingten körperlichen und psychomotorischen Rahmenbedingungen des anderen Verkehrsteilnehmers empathisch erfassen, einschätzen und bereits im sogenannten Unfall-Pre-Event agieren kann.
Zu guter Letzt ist Risikomündigkeit (Risk Literacy) in ihrer zielgruppenspezifischen Ausformung der anzustrebende und zentrale Skill, wenn es um Prävention in einer „gesunden“ Balance von Sicherheit und Risiko, von Verbot und Erlauben, von Anforderung und Fähigkeit geht.