Gefahren diesseits von Ertrinken bei Freizeitaktivitäten im und mit dem nassen Element – Fokusreport 2022
Zusammenfassung
Die Lust an einer schwimmenden Fortbewegung im Wasser scheint so alt wie die Menschheitsgeschichte zu sein. Im Gegensatz zum Menschen können jedoch die meisten Säugetiere intuitiv schwimmen. Für ein Kleinkind können die Neugierde und Anziehungskraft von Wasser auf der einen Seite und die Schwimmunfähigkeit auf der anderen eine tödliche Kombination darstellen.
Im langjährigen Schnitt kommen in Österreich knapp 35 Personen jeglichen Alters pro Jahr durch Ertrinken ums Leben. Bei Kindern zählt der tödliche Ertrinkungsunfall zu den häufigsten Todesursachen bis zum 14. Lebensjahr. Unterteilt man die Gruppe der Kinder noch weiter in 5-jährige Altersgruppen, so ist er bei den jüngsten die häufigste, bei den älteren Kindern nach dem Verkehr die zweithäufigste Todesursache.
Bei einem Ertrinkungsvorfall weist der medizinische Ausgang keine allzu große Bandbreite auf: Auf der einen Seite der Verletzungsskala finden sich Kinder, die rechtzeitig gerettet oder nach einem Krankenhausaufenthalt wieder gesund nach Hause zurückkehren können. Auf der anderen Seite finden sich leider die Kinder, die verstorben sind oder schwere Hirnschäden aufweisen. Dazwischen gibt es kaum eine Abstufung.
Auf Basis der vorhandenen Daten muss man davon ausgehen, dass auf 1 Ertrinkungsunfall mit tödlichem Ausgang 14 weitere mit stationärer Behandlung kommen. Von diesen Kindern wird jedes 3. auf der Intensivstation betreut. Vom medizinischen Outcome her betrachtet, wird auf einen tödlichen Ertrinkungsunfall mit einem weiteren Kind mit schwerer geistiger Behinderung als Folge des Unfalls zu rechnen sein.
Ertrinken wurde bereits umfassend im Report „Ertrinken von Kindern in Österreich. Fokusreport 2018“ behandelt. Ziel dieser Studie ist die Analyse der Unfälle, welche im Freizeitraum Wasser sozusagen diesseits von Ertrinken passieren.
Die Unfalldatenbank StISS wurde im Zeitraum 2015 bis 2021 mit Suchbegriffen gefiltert, die sich auf das Unfallgeschehen bei einer Aktivität in „Räumen mit Wasserbezug“ beziehen.
Insgesamt sind in unserer Datenbank in dem oben angeführten Zeitraum 94.014 Traumabehandlungen nach Unfällen aller Unfallkategorien (= 100 %) in der Altersgruppe 0 bis 18 Jahre verzeichnet. Das Filtern nach unseren Suchkriterien führte zu 2.043 (n=2,2 %) Falltreffern, welche in die genaue Analyse miteinbezogen werden.
Die Gesamtzahl von 2.043 Fällen wurde in drei Metagruppen geclustert, die sich wie folgt darstellen und in den nachfolgenden Kapiteln eingehend dargestellt werden:
FREIZEITRAUM WASSER
Diese Gruppe umfasst alle Unfälle am und im kühlenden Nass, also beim Pool zu Hause, im Schwimmbad oder am See. Exkludiert sind alle Unfälle im trockenen Bereich wie mit Gartenspielgeräten oder beim Fußballspielen auf der Spielwiese im Freibad oder am See.
URLAUB AUSLAND
Bei dieser Gruppe wurden alle Unfälle miteinbezogen, welche während eines Urlaubs im Ausland geschahen und an der Univ. Klinik für Kinder- und Jugendchirurgie von den Eltern zur weiteren im Auslandkrankenhaus empfohlenen medizinischen Behandlung oder zur elterlichen Absicherungskontrolle vorgestellt wurden.
In diesem Kapitel wird ein Überblick über das gesamte Unfallgeschehen auf Urlaubsreisen im Ausland gegeben, also sowohl über Unfälle im Wohnbereich (zB Hotel) als auch über Unfälle am Spielplatz oder am Meer.
KÖRPERHYGIENE ZU HAUSE: DUSCHE, BAD
Als dritte Gruppe konnte der Bereich der persönlichen Körperhygiene zu Hause im Badezimmer ausgemacht werden.
Die meisten Fälle mit 1.320 (64,6 %) beziehen sich auf den Freizeitraum Wasser, 432 (21,2 %) Unfälle sind im Urlaub passiert und 291 (14,2 %) Verletzungen sind im eigenen Badezimmer geschehen.
Die Analyse der prozentuellen Verteilung der Unfälle über den Tag zeigt bei den beiden typischen Freizeitkategorien den Höhepunkt am späteren Nachmittag, also den typischen Ermüdungszeitpunkt, während sich im Badezimmer die hygienische Rush-Hour mit dem Peak um 19 Uhr und 20 Uhr eindeutig abbildet.
Sowohl im Freizeitraum Wasser wie auch im Badezimmer ist der Anteil der einmaligen Vorstellung in der klinischen Ambulanz sehr groß, ja sogar größer als im Gesamtschnitt der Unfälle. Der Anteil bei stationären Aufnahmen bewegt sich hingegen im üblichen Rahmen. Auffällig freilich ist der große Anteil der ambulanten Wiederbestellungen und Kontrolluntersuchungen in der Kategorie „Urlaub im Ausland“. Diese Schieflage der Zahlen ist freilich dadurch bedingt, dass die üblichen Bagatellunfälle in dieser Kategorie im Krankenhaus im ursprünglichen Wohnsitzland Österreich nicht mehr in der Statistik erfasst werden (können).
Von allen Unfällen im Freizeitraum Wasser passieren rund 75 % in den typischen Sommermonaten Juni bis August.
Der Großteil des Unfallgeschehens passiert mit 70 % in öffentlichen Schwimmbädern (Freibad, Hallenbad, Therme), mit 21 % geschieht jeder fünfte Vorfall in und rund um das private Pool im eigenen Garten. An Naturgewässern wie (Bade-)Seen und Flüssen verletzten sich mit 9 % die geringste Anzahl der Kinder und Jugendlichen.
Jede dritte Verletzung (35,5 %) ist die Folge eines Anhauens oder Anstoßens am Schwimmbecken selbst, an einem Objekt oder Gebäudeteil. Bei 28,5 % der Vorfälle verletzen sich die Kinder und Jugendlichen durch einen Sturz in der Ebene und Aufprall am Boden. Mit einem Anteil von rund je 11 % folgen die Bewegung ins (und aus dem) Wasser (Beckenstufen und -leitern, Ausrutschen beim Wegspringen, Bauchfleck) und die Kollision mit Personen (beim Schwimmen, aufspringen, auf Wasserrutschen).
Der Sturz aus der Höhe (5 %) ist aufgrund der Umgebungssituation mit einem Beton- oder Fliesenboden häufig mit schweren Verletzungen verbunden. In unserer Analyse umfasst dies häufig den Sturz über Treppen als Gebäudeteil, aber auch von Treppen und Stufen zu einer Wasserrutsche oder Sprungturm bzw. in wenigen Fällen auch der Sturz von diesen Fun-Geräten selbst.
Jede zweite Verletzung (48 %) betrifft den Kopf, während nur 14 % die obere Extremität betreffen. Dies ist ein Indiz dafür, dass das Anhauen oder Stürzen unvermittelt passiert und die Reaktionszeit für eine Abwehrbewegung zu kurz ist bzw. die Art der Schwimmbewegung beim Anschlagen am Beckenrand keine mehr ermöglicht.
Eine Wasserrutsche ist bei Kindern und Jugendlichen sehr beliebt. Auch mit geringen Schwimmkenntnissen kann man auf derselben Spaß haben. Sie ist aus in kleiner oder großer Ausführung aus Bädern und Thermen auch nicht mehr wegzudenken. In diese Analyse wurden 215 Verletzungen (16,3 %) miteinbezogen, die auf Wasserrutschen passierten.
Das Becken im öffentlichen Schwimmbad war 190-mal (14,4 %) das Objekt des Verletzungsgeschehens.
In einem öffentlichen Schwimmbad tummeln sich naturgemäß viele Personen. Sonnenreflektionen auf der Wasseroberfläche, Schwimmen und Tauchen mit geschlossenen Augen und unkontrolliertes Springen ins Becken führen unweigerlich zu Kollisionen mit anderen Badegästen, welche sich in unserer Studie zu 130-mal ereignete (9,9 %).
Der Unfall in Zusammenhang mit Sprungbrett und Sprungturm kommt in unserer Untersuchung 40-mal (3 %). Der Sturz aus großer Höhe und die harte Umgebung bedingen jedoch bei einem Unfall große Unfallenergie und begünstigen somit die Verletzungsschwere.
Laut einer aktuellen Analyse gibt es in der Steiermark rund 60.000 Pools in den heimischen Gärten. In unserer Analyse sind 213 Verletzungen (16,1 %) unmittelbar auf den Pool im eigenen Garten zurückzuführen. Die Poolleiter ist am häufigsten bei einem Unfallgeschehen involviert (24,4 %).
Die Unfälle während des Urlaubs im Ausland stellen die zweite große Metagruppe dieser Studie dar. Von den insgesamt 2.043 Fällen sind 432 (21,2 %) dieser Definition zuzuordnen.
Beinahe jede zweite Verletzung (45 %) ist eine Fraktur. Dies spiegelt somit auch die große Anzahl der medizinisch notwendigen Wiedervorstellungen wider. Ein Viertel der Verletzungen (25,5 %) ist auf den Unfallmechanismus „Sturz in der Ebene“ zurückzuführen. Es folgen „Sturz aus der Höhe“ (14,1 %) und „Anhauen, anstoßen“ (10,4 %) auf den weiteren Häufungsplätzen des Unfallmechanismus.
Die Unfälle in der Unterkunft am Urlaubsort (n=49 / 11,3 %) betreffen die Jüngsten. Es handelt sich bei den Unfällen im Hotelzimmer oder im Appartement um die typischen Haushaltsunfälle.
Unfälle beim Wassersport, bei Risk & Fun – Aktivitäten, betreffen die Älteren und die Jugendlichen (n=36 / 8,3 %). Das Groß der Unfälle (n=277 / 64,1 %) ist dem Bereich „Freizeitaktivität am Urlaubsort“ zuzuordnen, was vom Sturz von der Schaukel über Umknicken beim Fußballspielen bis hin zum Sturz beim Radfahren reicht.
Am Meer selbst spielen Unerfahrenheit und Unachtsamkeit eine große Rolle bei den Unfallumständen. Ebenso wird die Scharfkantigkeit von Steinen, Muschel oder Felsen unterschätzt.
Bei einem Filter nach Unfälle in Zusammenhang mit Wasser sind unweigerlich auch Treffer in Zusammenhang mit dem hauseigenen Badezimmer gelistet worden. Dies ist mit 291 Fällen (14,2 %) die dritte Metagruppe in vorliegender Analyse.
Jeder zweite Unfall im Badezimmer betrifft die Altersgruppe der 0 bis 4-Jährigen (53 %). Bei Unfällen in der Badewanne ist das Kind mit einem durchschnittlichen Unfallalter von 4,85 Jahren weitaus jünger als die verunfallte Person in der Dusche mit 8,34 Jahren.
Im siebenjährigen Beobachtungszeitraum von 2015 bis 2021 wurden an der Univ. Klinik für Kinder- und Jugendchirurgie Graz 291 Verletzungen behandelt, die im Badezimmer zu Hause bei Duschen oder Baden geschehen sind.
Von den 291 erfassten Unfallmechanismen betreffen 54 % den Sturz durch Ausrutschen (am nassen Boden).
Bei 140 Fällen (48,1 %) wurde die Verletzung durch den Korpus der Badewanne verursacht, bei 83 Fällen (28,5 %) erfolgte die Verletzung durch die Duschkabine.
Die Ansätze für eine erfolgsversprechende Intervention orientieren sich an den drei sogenannten TOP-Kategorien:
- TECHNIK – Sicherheitstechnik
- ORGANISATION – Ablauf, Prozesse
- PERSON – Verhalten, Entwicklungsstatus
Übergeordnet sind zwei zentrale Kompetenzen für eine effektive und nachhaltige Unfallprävention anzuführen:
- RISK LITERACY bei den Eltern
- RISK COMPETENCE bei den Jugendlichen
Die Maßnahmen der Unfallprävention bewegen sich immer auf einem schmalen Grat zwischen den Polen von Laissez-faire und Helicopter-Parenting. Man kann und darf Kinder weder von jeglicher Gefahr fernhalten noch an jede heranlassen. Die Methodik von Beschützen / Protection und Erziehen / Education muss auf die Gefahr und die Person abgestimmt sein, um das Risiko größtmöglich zu minimieren.
Die Maxime in der Präventionsarbeit kann letztendlich nur lauten: effektiv und effizient in einer sinnvollen Balance von „so viel wie nötig und nicht so viel wie möglich“.