Foto: Fechter/Klinikum Graz
Pressemitteilung – 27. Jänner 2022
Oftmals sind Unfälle keine Zufälle: Um sie bestmöglich zu verhindern, gilt es, das Risikobewusstsein von Eltern sowie die Risikokompetenz von Schulkindern und Jugendlichen kontinuierlich aufzubauen und zu stärken. Das Forschungszentrum für Kinderunfälle des Vereins GROSSE SCHÜTZEN KLEINE hat gemeinsam mit der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendchirurgie Graz die Unfälle der am schwersten verletzten Kinder untersucht. Diese ereigneten sich vor allem im Straßenverkehr und beim Schifahren. Acht von zehn Unfallopfern waren männlich.
In der Steiermark werden pro Jahr rund 38.000 Kinder und Jugendliche zwischen 0 und 16 Jahren nach einem Unfall im Spital behandelt – 14.000 davon an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendchirurgie Graz. Die Klinik ist als überregionales Traumazentrum die erste Anlaufstelle für schwerverletzte Kinder und Jugendliche in der Steiermark sowie im gesamten südösterreichischen Raum.
Studie untersucht Unfälle mit schwerstverletzten Kindern und Jugendlichen
Die Unfälle von Kindern und Jugendlichen, welche mit dem Notarzt via Hubschrauber oder Rettungswagen in die Universitätsklinik für Kinder- und Jugendchirurgie Graz eingeliefert wurden und bei denen die Verletzungsschwere als äußerst ernst und vielfach lebensbedrohlich eingeschätzt werden musste, wurden im Fokusreport „Unfälle bei Kindern mit Schockraum-Erstversorgung und Langzeitbehandlung“ untersucht. Erstellt wurde der Report vom Forschungszentrum für Kinderunfälle des Vereins GROSSE SCHÜTZEN KLEINE und von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendchirurgie Graz mit Unterstützung des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (Abteilung Produktsicherheit).
Im 4-jährigen Studienzeitraum 2017 bis 2020 wurden 137 solcher Patient:innen über den Schockraum in die Universitätsklinik für Kinder- und Jugendchirurgie Graz eingeliefert. Fünf dieser Kinder und Jugendlichen waren in einem derart schlechten Zustand, dass sie noch im Schockraum an ihren schweren Kopfverletzungen verstarben.
„Unfälle mit einem äußerst ernsten und lebensbedrohlichen Vitalstatus sind mit 30 bis 40 (Steiermark 60 bis 70, Österreich bis zu 500) von 14.000 Unfallbehandlungen an unserer Klinik sehr selten. Dennoch ist natürlich jeder Einzelne dieser 30 bis 40 Unfälle tragisch. Die Unfallhergänge werden von uns genau analysiert, um daraus bestmögliche Präventionsansätze zum Schutz unserer Kinder und Jugendlichen abzuleiten“, betont Univ.-Prof. Dr. Holger Till, Vorstand der Grazer Universitätsklinik für Kinder und Jugendchirurgie und Präsident des Vereins GROSSE SCHÜTZEN KLEINE.
Schwerste Verletzungen vor allem im Straßenverkehr und auf der Schipiste
Die Unfallkategorien sind breit gefächert. An der Spitze der Häufigkeitstabelle steht der Verkehrsunfall (41 %), gefolgt von Freizeit und Sport (32 %), Haus und Garten (13 %) sowie Landwirtschaft (5 %). Studienautor Dr. Peter Spitzer vom Forschungszentrum für Kinderunfälle: „Eine Betrachtung der einzelnen Unfallkategorien im Detail sieht den Mopedunfall ganz vorne, gefolgt vom Fußgängerunfall und vom Sturz beim Schifahren. Es handelt sich also durchwegs um Bereiche mit hohem Fortbewegungstempo und somit hoher Unfallenergie, die auf den oftmals ungeschützten Körper einwirkt.“ Auch Unfälle am Bauernhof sind bei den schwersten Unfällen überrepräsentiert. Eine Analyse des Unfallortes nach den Altersgruppen zeigt, dass die Jüngsten deutlich häufiger im Indoor-Bereich verunfallen, die älteren Kinder und Jugendlichen hingegen im Outdoor-Bereich.
8 von 10 Schwerstverletzten sind Burschen, mit dem Alter nimmt die Verletzungsschwere zu
Die 137 Patient:innen aus dem Studienzeitraum sind zum überwiegenden Teil (78 %) männlich. „Betrachtet man nicht nur die schwersten, sondern alle Kinder- und Jugendunfälle, so sind 57 % bis 60 % Unfallanteil bei den Burschen „üblich“. Der noch deutlich höhere Anteil von fast 80 % bei den Schwerstverletzten unterstreicht, dass mit zunehmendem Alter nicht nur das Risiko für Unfälle generell, sondern auch für schwere Verletzungen für die männliche Bevölkerungsgruppe steigt“, betont Spitzer.
Im Altersschnitt sind die Patient:innen 10,5 Jahre alt, wobei das Patientengut eine Altersrange von 0 bis 17 Jahre umfasst: 19 % waren 0-4 Jahre, 20 % 5-9 Jahre, 25 % 10-14 Jahre und der bei weitem größte Teil mit 36 % 15-17 Jahre alt.
Großes persönliches Leid – starke finanzielle Belastung
Till: „Bei unseren 137 Patient:innen wurden 196 relevante Verletzungen kategorisiert, wobei Verletzungen der Arme und Beine mit 49 % an der Spitze der betroffenen Körperregionen waren, gefolgt von Verletzungen an Kopf, Gesicht und Nacken (28 %) sowie am Körperstamm, also an Brustkorb, Bauch und Becken (23 %). Beinahe drei Viertel der Unfallopfer mussten operativ versorgt werden. Dieser große Anteil der operativen Versorgung bedeutet auch entsprechende Anteile an stationären Aufenthalten und Versorgungstagen auf der Intensivstation. Jede/r zweite Patient/in lag letztlich auch auf der Intensivstation. Im Schnitt war ein 15-tägiger Aufenthalt im Krankenhaus notwendig.“
Zu diesem großen persönlichen Leid kommen hohe finanzielle Kosten für das Gesundheitssystem. Eine grobe Kostenschätzung des medizinischen Aufwandes für die gesamte Behandlung eines derart schweren Unfalles inklusive Operationen, intensivmedizinischer Betreuung und stationärem Aufenthalt liegt bei rund 20.000 Euro.
Risikobewusstsein bei Eltern schaffen, Risikokompetenz bei Schulkindern und Jugendlichen stärken
Till betont: „Das eigene Kind vor einem Unfall zu bewahren, ist für uns Erwachsene immer eine Gratwanderung zwischen Überbehütung und Achtlosigkeit. Wie bei vielen Dingen im Leben kommt es auch hier auf die richtige Dosis an. Kleinkinder haben noch kein Risikobewusstsein ausgebildet, sie können eine Gefahr noch nicht erkennen, geschweige denn eine risikoreiche Handlung richtig einschätzen. Daher ist es in den ersten Lebensjahren unumgänglich, den Schwerpunkt der elterlichen Bemühungen auf den Faktor Beschützen zu legen. Erst mit dem Schulalter entwickeln Kinder ein zunehmendes Gefahrenbewusstsein, sodass nun Vorbild sein und Erziehen die beiden wichtigsten Faktoren für ein unfallfreies Leben sind. Bei den Jugendlichen benötigen wir einerseits eine intrafamiliäre Sicherheitskultur, andererseits bedarf es auch verschiedener Bildungsstrategien, damit diese risikofreudige und letztlich auch unfallreiche Altersgruppe mit mehr Risikokompetenz und weniger Krankenhauskontakt durch ihr Leben gehen kann. Dieses, im Fall des Falles lebensrettende bzw. allemal vor schweren Verletzungen schützende, Wissen und Bewusstsein sollte ein fixer Bestandteil im Schulunterricht sein.“
Spitzer ergänzt: „Ab dem Volksschulalter und vor allem in der Pubertät ist Bewegung, Spiel und Sport eine bestimmende und auch wichtige Beschäftigung der Kinder. Grundsätzlich sind hier die adäquate Schutzausrüstung, ein sicheres Sportgerät an sich, die persönliche Fitness und das Lernen der Sportart wichtige Faktoren der Unfallverhütung und Verletzungsminimierung. Bei der Verkehrsteilnahme als Fußgänger:in, Radfahrer:in oder mit dem Scooter müssen kindliche Entwicklung und Verkehrskompetenz ausgereift sein, um eine aktive und sichere Teilnahme am Straßenverkehr zu ermöglichen. Eine wichtige Aufgabe kommt hier auch der Produktsicherheit zu – nicht nur bei der Bewertung des einzelnen Produktes, sondern auch in der Ausbildung eines Sicherheitsbewusstseins bei Anbietern gewisser Produkte. Im Sportbereich wäre es zum Beispiel sehr wünschenswert, dass zum Sportgerät auch gleich die passende Schutzausrüstung mitangeboten wird. Auch der Kontakt zum Sportmarketing und in den Gesundheitsbereich ist wichtig, damit das Image einer sportlichen Aktivität nur mit Schutzausrüstung „cool“ ist.“
Letztlich werden nicht alle Unfälle mit tödlichen oder schweren Verletzungen zu verhindern sein. Spezielle Einzelsituationen wird es natürlich immer geben, bei denen alle negativen Faktoren aufs Ungünstigste zusammenkommen. Klar ist aber, dass Unfallpräventionsmaßnahmen wirken: Die tödlichen Kinderunfälle sind von rd. 200 jährlich in den 1980er-Jahren auf aktuell rd. 20 pro Jahr gesunken.
Den Fokusreport „Unfälle bei Kindern mit Schockraum-Erstversorgung und Langzeitbehandlung“ finden Sie hier:
www.grosse-schuetzen-kleine.at/forschungszentrum/publikationen
Tipp: Für Eltern bietet der Verein Infomaterialien und Sicherheitstipps zu sämtlichen Gefahrenbereichen. Kinder können sich beispielsweise im GROSSE SCHÜTZEN KLEINE Online Klassenzimmer wichtiges Sicherheitswissen ganz nebenbei „erspielen“: www.grosse-schuetzen-kleine.at/e-learning